Einführung
Der unmittelbare Kontakt zu den Erscheinungen, in denen sich Volksleben
und Volkskultur manifestieren, ist von Matthias Zender stets hoch bewertet worden. Er
selber, dem in weiten volkskundlichen Bereichen die persönliche Anschauungsgrundlage noch
zu Eigen ist, hat immer versucht, seine Schüler durch praktische Arbeit in der Landschaft
an die Dinge heranzuführen. Alle, die unter seiner Anleitung Volkskunde studierten, haben
gelernt, daß die detaillierte Beobachtung und Beschreibung der Sachverhalte Voraussetzung
für jede volkskundliche Tätigkeit ist. Zur praktischen Arbeit nutzte er vor allem
wissenschaftliche Exkursionen und Studienaufenthalte. Seit Beginn seiner
Dozententätigkeit gab es keine Sommerferien, in denen er mit ihnen nicht mindestens eine
Woche bei Felduntersuchungen unterwegs war oder hiermit einen Mitarbeiter betraute. Je
mehr die Vorstellung von den Formen des Volkslebens bei den jüngeren Studenten
verlorengeht, um so wichtiger nimmt er diese Aufgabe.
Die wechselnden Untersuchungsthemen der Studienaufenthalte bezeichnen die entscheidenden
Schwerpunktverschiebungen in der Volkskunde. Beim ersten Studienaufenthalt 1951 in der
Westeifel ging es noch um das lebendige Erzählgut, das in seinen gewandelten Beständen
und Formen aufgezeichnet wurde. Danach trat der Volksbrauch in den Vordergrund, der in der
Auseinandersetzung zwischen Tradition und Neuerung eine Schlüsselstellung einnimmt. Unter
dem Eindruck zunehmender Mechanisierung in der Landwirtschaft wurden seit dem Ende der
fünfziger Jahre auf dem Hunsrück und am Niederrhein, aber auch in einigen Winzerorten an
Mosel und Nahe die fast schon vergessenen Handgerätetechniken in ihrer Auswirkung auf die
Lebens- und Gemeinschaftsformen untersucht. Bald darauf gelangten die aussterbenden
Handwerke und Gewerbe ins Blickfeld, bei denen die Merkmale der landschaftlichen
Verflechtung, der Fachsprache sowie der wirtschaftlich-sozialen Lage beobachtet und
aufgenommen wurden. Bei den letzten Felduntersuchungen, die zur Zeit am Ort und im
Einzugsbereich eines großen niederrheinischen Chemiewerks durchgeführt werden, geht es
um die Probleme, die sich beim Übergang zur modernen Industriegesellschaft ergeben.
Diese Studienaufenthalte, die ein wesentlicher Bestandteil des Zenderschen Lehrprogramms
und zugleich auch der rheinischen Forschung sind, haben in der Landschaft stets großen
Anklang gefunden. Sie trugen dazu bei, die Beziehung zwischen der Bonner Volkskunde und
den Gewährsleuten draußen enger zu knüpfen, und sie konfrontierten uns unmittelbar mit
den Forschungsgegenständen. In den vorbereitenden Seminaren mit theoretischen Hilfen zum
Untersuchungsthema und mit methodischem Rüstzeug ausgestattet waren wir bei den
Erhebungen weitgehend auf uns selbst gestellt. Wir hatten Verbindung mit den
Gewährspersonen zu suchen und mit Erkundungsgesprächen und eigenen Beobachtungen die
Fakten festzustellen. Durch diese lebendige Praxis wurden wir in die Arbeitsweise der
Volkskunde eingeführt. Bei den abendlichen Zusammenkünften während der
Studienaufenthalte, bei denen wir über unsere Erkundungen berichten konnten, wurden die
methodischen Probleme solcher Direktbefragungen am Beispiel besprochen. Wir lernten, wie
aus den durch die Fragestellung beeinflußten Antworten und aus der persönlichen Meinung
der Befragten der Wirklichkeitsgehalt herausgeschält werden muß, und wie die bekundete
Haltung der Gesprächspartner als Teil der Information verwertet werden kann.
Für den Studienaufenthalt im Sommer 1970 waren erstmals Orte ausgewählt, die durch
landschaftsgebundene Handwerk geprägt sind. Er führte mit einer Gruppe in das
Töpferdorf Speicher bei Trier, in dem die Töpferei schon zur Zeit der Römer ansässig
war. Heute existieren noch zwei Betriebe, von denen einer industriell orientiert ist. Eine
zweite Gruppe ging in das Steinhauerdorf Neidenbach am Nordrand des Kreises Bitburg, wo
gegen Ende des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Sandsteingruben die Produktion von
Schleifsteinen für die Kleineisenindustrie des Bergischen Landes aufblühte. Durch die
Sicherheitsvorschriften der Schleifer-Berufsgenossenschaft, die die Verwendung des
Sandsteins wegen der Gefahr der Silikoseerkrankungen verbot, und durch das Aufkommen
künstlicher Schleifmittel sowie Schleifmaschinen ist auch dieses Handwerk heute fast
ausgestorben. Es gibt nur noch einen kleinen Familienbetrieb, der in alter Weise
Schleifsteine herstellt. Die Feststellungen in diesen beiden Gewerbeorten sollten die
Entwicklung während der letzten Jahrzehnte klären. Außerdem ging es um die
Arbeitsverfahren, die typischen Produkte, die Vertriebsformen, die fachsprachlichen
Merkmale sowie die Bedeutung dieser Handwerke für das Ortsleben. In Neidenbach sollte der
Studienaufenthalt nebenbei dazu genutzt werden, einen volkskundlichen Dokumentarfilm über
die Arbeit der Schleifsteinhauer vorzubereiten, der inzwischen abgedreht wurde. Während
die Feststellungen aus Speicher in einer Dissertation verwertet werden, die in Arbeit ist,
sollen die Neidenbacher Ergebnisse in einer Begleitveröffentlichung zu dem erwähnten
Film erscheinen. Von der Seminargruppe, welche die Untersuchung durchführte, sollen hier
nur einige Aspekte aufgezeigt werden.
Die in Neidenbach vorgefundene Situation erwies sich wegen des Interesses der
Gemeindevertretung an der Geschichte des Gewerbes, das in der Vergangenheit Bedeutung und
Wohlstand des Ortes bestimmte, als äußerst günstig. Bei den alten Steinhauern,
Grubenschmieden und Fuhrleuten, für die bei den Erkundungsgesprächen die vergangene Welt
noch einmal auflebte, fanden wir offene Türen. Und in dem letzten Schleifsteinbruch
konnten wir die Arbeits- und Lebensweise, um die es in erster Linie ging, bis in alle
Einzelheiten verfolgen.
Der Ort selbst liegt ohne direkte Fernverbindung auf dem von Kylltal und Nimstal
eingeschlossenen Höhenrücken, der sich zur Mosel abfallend in nord-südlicher Richtung
erstreckt. Bis Ende des 18. Jahrhunderts bestand er aus 18 Stockhöfen, war also
ursprünglich rein bäuerlich bestimmt. Der unter der Ackerkrume anstehende Sandstein
wurde schon immer für den Hausbau genutzt und vor allem an den Steilhängen des
Pommericher Bergs gebrochen, an dessen Fuß der alte Dorfkern entstand. Das
Steinhauergewerbe war ursprünglich im Kylltal ansässig, wo verhältnismäßig harter
Sandstein gewonnen wird, der sich für Viehtränken, Futtertröge, Sauerkrautbehälter und
zu Hausteinen für Fensterlaibungen, Treppenstufen usw. gut eignet. Sie waren früher die
Hauptprodukte, die auf der Mosel auch in andere Gegenden verfrachtet wurden. Die weicheren
Sandsteinlagen auf dem Bergrücken wurden erst interessant, als die Eisenindustrie im
nördlichen Rheinland höhere Ansprüche an die Schleifsteine stellte und als sich eine
günstigere Transportmöglichkeit hierfür bot. Stichjahr für den Aufschwung Neidenbachs,
der Ort entwickelte sich zum Zentrum des Schleifsteinhauergewerbes, ist das Jahr 1873, in
dem die Köln - Trierer Eisenbahn fertiggestellt wurde, die durch das benachbarte Kylltal
führt. Es gibt Erzählungen von einem Landmesser, der in dieser Zeit die ersten
Steinhauerwerkzeuge im Rucksack nach Neidenbach brachte und dort eine Schleifsteingrube
eröffnete. Von da ab vollzog sich eine sprunghafte Vergewerblichung des Dorfes, die in
den Auswirkungen der frühen Industrialisierung ähnelt. Es lassen sich zwei Phasen
unterscheiden: Die erste wurde eingeleitet von mehr als einem halben Dutzend großer
Steinbruchunternehmen, die bis zu 150 Arbeiter beschäftigten. Einige kamen aus den
älteren Betrieben im Kylltal, alle anderen waren als frühere Schleifkottenbesitzer und
Schleifsteinhändler aus dem Bergischen Land fremd in der Landschaft. Die männlichen
Arbeitskräfte des Ortes, die früher wegen des Stockerbenrechts und des kärglichen
Bodenertrags hier keine Nahrungsgrundlage fanden - Neidenbacher gingen vielfach als
Knechte ins Bitburger Gutland -, bekamen in diesen Brüchen günstige
Erwerbsmöglichkeiten. Da ihre Zahl nicht ausreichte, wurden weitere Arbeiter aus den
Nachbardörfern zugezogen. Um 1910 waren es über 200 Einpendler. Der Ort, der bis 1850
unter 500 Einwohner zählte, war bis dahin auf etwa 700 angewachsen. Das Ortsbild änderte
sich durch die zahlreichen Steinhauerhäuser, die die Flächen zwischen den Bauernhöfen
ausfüllten. Die zweite Phase der Entwicklung begann, als nach dem ersten Weltkrieg durch
Stillegung der Rüstungsindustrie, die wöchentlich hunderte von großen Schleifsteinen
abgenommen hatte, in Neidenbach eine Notzeit begann. Die großen Steinbruchbetriebe
entließen von heute auf morgen ihre Arbeiter und zogen sich ausnahmslos aus dem Gewerbe
zurück. In dieser Situation griffen die Steinhauer im Ort zur Selbsthilfe. Während der
zwanziger Jahre taten sich Dutzende von kleinen Familienbetrieben auf, die die Arbeit in
anderer Form fortsetzten. Sie erneuerten die Verbindung zu den bergischen Schleifereien
und fanden den Anschluß an die Rüstungsindustrie vor dem zweiten Weltkrieg. Damit begann
wieder eine Zeit der Hochkonjunktur, die aber ebenfalls nicht von großer Dauer war.
Was wir in Hinblick auf die Wandlungen vorfanden, die sich auf Grund dieser Entwicklung
ergaben, wird in den folgenden Berichten zu schildern versucht. Von den 6 Mitgliedern der
Gruppe war jeder auf ein spezielles Untersuchungsgebiet angesetzt. Dementsprechend liegen
6 Beiträge vor, die sich mit dem Gemeinschaftsleben, dem Leben in der Familie, dem Haus
und der Hauseinrichtung, der bäuerlichen Arbeitswelt, dem Handwerk der Steinhauer und
schließlich mit den Hilfsgewerben der Steinhauerei befassen.
Quellenangabe: Festschrift Matthias Zender, 1970
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