Das Steinhauerdorf Neidenbach in der Südeifel

Ergebnisse einer Felduntersuchung des Bonner volkskundlichen Seminars im Sommer 1970

Von Gabriel Simons, Hartmut Bickel, Dorette Kleine, Hans-Georg Schmeling und Hans-Walter Keweloh

Anmerkung:

Es handelt sich hier um eine umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung der Verhältnisse in Neidenbach von Studenten dieses Seminars aus deren Sichtweise des Jahres 1970. Das ist beim Lesen der Texte immer zu beachten. Noch ein Tip: Seiten laden lassen und anschließend Offline lesen.

 


Einführung Das Gemeinschaftsleben
Die Familie Ausstattung und Nutzung der Wohnräume

Einführung

Der unmittelbare Kontakt zu den Erscheinungen, in denen sich Volksleben und Volkskultur manifestieren, ist von Matthias Zender stets hoch bewertet worden. Er selber, dem in weiten volkskundlichen Bereichen die persönliche Anschauungsgrundlage noch zu Eigen ist, hat immer versucht, seine Schüler durch praktische Arbeit in der Landschaft an die Dinge heranzuführen. Alle, die unter seiner Anleitung Volkskunde studierten, haben gelernt, daß die detaillierte Beobachtung und Beschreibung der Sachverhalte Voraussetzung für jede volkskundliche Tätigkeit ist. Zur praktischen Arbeit nutzte er vor allem wissenschaftliche Exkursionen und Studienaufenthalte. Seit Beginn seiner Dozententätigkeit gab es keine Sommerferien, in denen er mit ihnen nicht mindestens eine Woche bei Felduntersuchungen unterwegs war oder hiermit einen Mitarbeiter betraute. Je mehr die Vorstellung von den Formen des Volkslebens bei den jüngeren Studenten verlorengeht, um so wichtiger nimmt er diese Aufgabe.

Die wechselnden Untersuchungsthemen der Studienaufenthalte bezeichnen die entscheidenden Schwerpunktverschiebungen in der Volkskunde. Beim ersten Studienaufenthalt 1951 in der Westeifel ging es noch um das lebendige Erzählgut, das in seinen gewandelten Beständen und Formen aufgezeichnet wurde. Danach trat der Volksbrauch in den Vordergrund, der in der Auseinandersetzung zwischen Tradition und Neuerung eine Schlüsselstellung einnimmt. Unter dem Eindruck zunehmender Mechanisierung in der Landwirtschaft wurden seit dem Ende der fünfziger Jahre auf dem Hunsrück und am Niederrhein, aber auch in einigen Winzerorten an Mosel und Nahe die fast schon vergessenen Handgerätetechniken in ihrer Auswirkung auf die Lebens- und Gemeinschaftsformen untersucht. Bald darauf gelangten die aussterbenden Handwerke und Gewerbe ins Blickfeld, bei denen die Merkmale der landschaftlichen Verflechtung, der Fachsprache sowie der wirtschaftlich-sozialen Lage beobachtet und aufgenommen wurden. Bei den letzten Felduntersuchungen, die zur Zeit am Ort und im Einzugsbereich eines großen niederrheinischen Chemiewerks durchgeführt werden, geht es um die Probleme, die sich beim Übergang zur modernen Industriegesellschaft ergeben.


Diese Studienaufenthalte, die ein wesentlicher Bestandteil des Zenderschen Lehrprogramms und zugleich auch der rheinischen Forschung sind, haben in der Landschaft stets großen Anklang gefunden. Sie trugen dazu bei, die Beziehung zwischen der Bonner Volkskunde und den Gewährsleuten draußen enger zu knüpfen, und sie konfrontierten uns unmittelbar mit den Forschungsgegenständen. In den vorbereitenden Seminaren mit theoretischen Hilfen zum Untersuchungsthema und mit methodischem Rüstzeug ausgestattet waren wir bei den Erhebungen weitgehend auf uns selbst gestellt. Wir hatten Verbindung mit den Gewährspersonen zu suchen und mit Erkundungsgesprächen und eigenen Beobachtungen die Fakten festzustellen. Durch diese lebendige Praxis wurden wir in die Arbeitsweise der Volkskunde eingeführt. Bei den abendlichen Zusammenkünften während der Studienaufenthalte, bei denen wir über unsere Erkundungen berichten konnten, wurden die methodischen Probleme solcher Direktbefragungen am Beispiel besprochen. Wir lernten, wie aus den durch die Fragestellung beeinflußten Antworten und aus der persönlichen Meinung der Befragten der Wirklichkeitsgehalt herausgeschält werden muß, und wie die bekundete Haltung der Gesprächspartner als Teil der Information verwertet werden kann.

Für den Studienaufenthalt im Sommer 1970 waren erstmals Orte ausgewählt, die durch landschaftsgebundene Handwerk geprägt sind. Er führte mit einer Gruppe in das Töpferdorf Speicher bei Trier, in dem die Töpferei schon zur Zeit der Römer ansässig war. Heute existieren noch zwei Betriebe, von denen einer industriell orientiert ist. Eine zweite Gruppe ging in das Steinhauerdorf Neidenbach am Nordrand des Kreises Bitburg, wo gegen Ende des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Sandsteingruben die Produktion von Schleifsteinen für die Kleineisenindustrie des Bergischen Landes aufblühte. Durch die Sicherheitsvorschriften der Schleifer-Berufsgenossenschaft, die die Verwendung des Sandsteins wegen der Gefahr der Silikoseerkrankungen verbot, und durch das Aufkommen künstlicher Schleifmittel sowie Schleifmaschinen ist auch dieses Handwerk heute fast ausgestorben. Es gibt nur noch einen kleinen Familienbetrieb, der in alter Weise Schleifsteine herstellt. Die Feststellungen in diesen beiden Gewerbeorten sollten die Entwicklung während der letzten Jahrzehnte klären. Außerdem ging es um die Arbeitsverfahren, die typischen Produkte, die Vertriebsformen, die fachsprachlichen Merkmale sowie die Bedeutung dieser Handwerke für das Ortsleben. In Neidenbach sollte der Studienaufenthalt nebenbei dazu genutzt werden, einen volkskundlichen Dokumentarfilm über die Arbeit der Schleifsteinhauer vorzubereiten, der inzwischen abgedreht wurde. Während die Feststellungen aus Speicher in einer Dissertation verwertet werden, die in Arbeit ist, sollen die Neidenbacher Ergebnisse in einer Begleitveröffentlichung zu dem erwähnten Film erscheinen. Von der Seminargruppe, welche die Untersuchung durchführte, sollen hier nur einige Aspekte aufgezeigt werden.

Die in Neidenbach vorgefundene Situation erwies sich wegen des Interesses der Gemeindevertretung an der Geschichte des Gewerbes, das in der Vergangenheit Bedeutung und Wohlstand des Ortes bestimmte, als äußerst günstig. Bei den alten Steinhauern, Grubenschmieden und Fuhrleuten, für die bei den Erkundungsgesprächen die vergangene Welt noch einmal auflebte, fanden wir offene Türen. Und in dem letzten Schleifsteinbruch konnten wir die Arbeits- und Lebensweise, um die es in erster Linie ging, bis in alle Einzelheiten verfolgen.

Der Ort selbst liegt ohne direkte Fernverbindung auf dem von Kylltal und Nimstal eingeschlossenen Höhenrücken, der sich zur Mosel abfallend in nord-südlicher Richtung erstreckt. Bis Ende des 18. Jahrhunderts bestand er aus 18 Stockhöfen, war also ursprünglich rein bäuerlich bestimmt. Der unter der Ackerkrume anstehende Sandstein wurde schon immer für den Hausbau genutzt und vor allem an den Steilhängen des Pommericher Bergs gebrochen, an dessen Fuß der alte Dorfkern entstand. Das Steinhauergewerbe war ursprünglich im Kylltal ansässig, wo verhältnismäßig harter Sandstein gewonnen wird, der sich für Viehtränken, Futtertröge, Sauerkrautbehälter und zu Hausteinen für Fensterlaibungen, Treppenstufen usw. gut eignet. Sie waren früher die Hauptprodukte, die auf der Mosel auch in andere Gegenden verfrachtet wurden. Die weicheren Sandsteinlagen auf dem Bergrücken wurden erst interessant, als die Eisenindustrie im nördlichen Rheinland höhere Ansprüche an die Schleifsteine stellte und als sich eine günstigere Transportmöglichkeit hierfür bot. Stichjahr für den Aufschwung Neidenbachs, der Ort entwickelte sich zum Zentrum des Schleifsteinhauergewerbes, ist das Jahr 1873, in dem die Köln - Trierer Eisenbahn fertiggestellt wurde, die durch das benachbarte Kylltal führt. Es gibt Erzählungen von einem Landmesser, der in dieser Zeit die ersten Steinhauerwerkzeuge im Rucksack nach Neidenbach brachte und dort eine Schleifsteingrube eröffnete. Von da ab vollzog sich eine sprunghafte Vergewerblichung des Dorfes, die in den Auswirkungen der frühen Industrialisierung ähnelt. Es lassen sich zwei Phasen unterscheiden: Die erste wurde eingeleitet von mehr als einem halben Dutzend großer Steinbruchunternehmen, die bis zu 150 Arbeiter beschäftigten. Einige kamen aus den älteren Betrieben im Kylltal, alle anderen waren als frühere Schleifkottenbesitzer und Schleifsteinhändler aus dem Bergischen Land fremd in der Landschaft. Die männlichen Arbeitskräfte des Ortes, die früher wegen des Stockerbenrechts und des kärglichen Bodenertrags hier keine Nahrungsgrundlage fanden - Neidenbacher gingen vielfach als Knechte ins Bitburger Gutland -, bekamen in diesen Brüchen günstige Erwerbsmöglichkeiten. Da ihre Zahl nicht ausreichte, wurden weitere Arbeiter aus den Nachbardörfern zugezogen. Um 1910 waren es über 200 Einpendler. Der Ort, der bis 1850 unter 500 Einwohner zählte, war bis dahin auf etwa 700 angewachsen. Das Ortsbild änderte sich durch die zahlreichen Steinhauerhäuser, die die Flächen zwischen den Bauernhöfen ausfüllten. Die zweite Phase der Entwicklung begann, als nach dem ersten Weltkrieg durch Stillegung der Rüstungsindustrie, die wöchentlich hunderte von großen Schleifsteinen abgenommen hatte, in Neidenbach eine Notzeit begann. Die großen Steinbruchbetriebe entließen von heute auf morgen ihre Arbeiter und zogen sich ausnahmslos aus dem Gewerbe zurück. In dieser Situation griffen die Steinhauer im Ort zur Selbsthilfe. Während der zwanziger Jahre taten sich Dutzende von kleinen Familienbetrieben auf, die die Arbeit in anderer Form fortsetzten. Sie erneuerten die Verbindung zu den bergischen Schleifereien und fanden den Anschluß an die Rüstungsindustrie vor dem zweiten Weltkrieg. Damit begann wieder eine Zeit der Hochkonjunktur, die aber ebenfalls nicht von großer Dauer war.

Was wir in Hinblick auf die Wandlungen vorfanden, die sich auf Grund dieser Entwicklung ergaben, wird in den folgenden Berichten zu schildern versucht. Von den 6 Mitgliedern der Gruppe war jeder auf ein spezielles Untersuchungsgebiet angesetzt. Dementsprechend liegen 6 Beiträge vor, die sich mit dem Gemeinschaftsleben, dem Leben in der Familie, dem Haus und der Hauseinrichtung, der bäuerlichen Arbeitswelt, dem Handwerk der Steinhauer und schließlich mit den Hilfsgewerben der Steinhauerei befassen.

Quellenangabe: Festschrift Matthias Zender, 1970

 



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