Das Gemeinschaftsleben
Von Hartmut Bickel
Die gestellte Aufgabe bestand darin, das Gemeinschaftsleben in Neidenbach zu untersuchen,
seine Eigenart herauszustellen und auf die Kräfte hinzuweisen, die es gestaltet haben.
Der umstrittene Begriff "Gemeinschaft" wird beibehalten, weil er besser als jede
Umschreibung das beabsichtigte Ziel vor Augen führt, nämlich die kulturellen
Äußerungen zu erfassen, die von kleineren oder größeren Gruppen der Dorfbewohner
getragen werden, unabhängig von den Familien. Es muß berücksichtigt werden, daß es
sich bei den folgenden Ausführungen nur um einen Teil einer Untersuchung handelt, bei der
die Dokumentation des fast ausgestorbenen Schleifsteinhauergewerbes im Vordergrund stand.
Vor allem sollen die methodischen Möglichkeiten mit erörtert werden.
Die vorliegenden Angaben beruhen auf einer Direktbefragung nach einem vorher festgelegten
Fragenkatalog - aber mit der Möglichkeit freier Handhabung und Abwandlung der
Fragenkomplexe im Gespräch - und auf teilnehmender Beobachtung. Dazu kam die Auswertung
der zugänglichen Gemeindeakten und -statistiken. Es wurde diese Art der Befragung
gewählt, weil aus unbeabsichtigten Außerungen im Gespräch oft mehr über persönliche
Meinungen und Einstellungen zu erfahren ist als aus den Antworten auf festgelegte
vorformulierte Fragen. Das "Erkundungsgespräch" ließ die Möglichkeit offen,
die Aufnahme der Fragen zu kontrollieren und bei Mißverständnis oder Ablehnung
korrigierend einzugreifen.
Da im voraus nicht abschätzbar war, welche Nachrichten im einzelnen wichtig werden
würden - die aus allgemeinen Beschreibungen der Eifeldörfer gewonnenen Vorkenntnisse
trafen häufig für Neidenbach nicht zu - und wichtige neue Gesichtspunkte sofort in die
Befragung aufgenommen werden sollten, konnte auch aus diesem Grund ein fester
Fragenkatalog nicht verwendet werden. Andererseits mußte das vorher festgelegte
Grundgerüst von Fragen so weit wie möglich berücksichtigt werden, um vergleichbare
Ergebnisse zu erhalten.
Da sich der Bereich der von einer Gemeinschaft getragenen kulturellen Außerungen nicht in
Stichworten festhalten läßt, wurden die Antworten der Dorfbewohner - es stand nur in
seltenen Fällen ein Tonbandgerät zur Verfügung - in vollständigen Sätzen
mitgeschrieben. Auf diese Weise konnten geringe Abweichungen in der Beantwortung der
Fragen festgehalten werden. Die Befragten zeigten nicht nur Verständnis für das Notieren
der Antworten, sondern ergänzten selbst: "Das müssen Sie unbedingt
aufschreiben", oder "Schreiben Sie das nicht auf". Das Material jedes
Befragers wurde später durch die von den Kollegen aufgeschriebenen oder auf Tonband
aufgenommenen Angaben ergänzt, soweit sie seinen Fragebereich betrafen. Auf diese Weise
konnten die eigenen Erhebungen auf eine breitere Basis gestellt werden. Die Antworten
wurden für jede befragte Person nach zusammenhängenden Sachkomplexen geordnet. An jedem
Abend kamen die Befrager zusammen, um über die Erfahrungen mit den Gewährsleuten und
ihre Stellung im Dorf zu sprechen. Aus Randbemerkungen bei anderen Interviews ließen sich
manchmal Schlüsse ziehen, die das Ansehen einzelner Gewährsleute betrafen, z. B.
"Ach, der kommt aus dem roten Viertel". Der Erfahrungsaustausch diente wie die
teilnehmende Beobachtung zur Kontrolle der aufgenommenen Ergebnisse. Durch Diskussion der
Einzelergebnisse sollte vermieden werden, bestimmte Sachzusammenhänge einseitig zu sehen
und zu interpretieren. Dieses Vorgehen führte zu einer Erweiterung der Gesichtspunkte und
damit zu einer Ausweitung der Erkundungsgespräche. Zwar wurde auf diese Weise eine breite
Ausgangsbasis für die gestellte Aufgabe gewonnen, aber in der begrenzten Zeit ließen
sich nur verhältnismäßig wenig Personen befragen (17 Direktbefragungen, zusätzlich
Material aus 30 Befragungen der Kommilitonen).
Die Befragten kamen zunächst aus dem Kreis der Schleifsteinhauer. Das ergab sich aus dem
Ansatz der Umfrage, die einen Film über das Schleifsteinhauergewerbe vorbereiten sollte.
Darüber hinaus wurde die Befragung auf einige vom Bürgermeister angegebene Gewährsleute
ausgedehnt. Die Ergebnisse, die wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht
umfassend sein können, müssen daher auch immer unter dieser Voraussetzung gesehen
werden. Vom Beginn des Studienaufenthaltes an wirkte es sich günstig aus, daß alle
Befrager bei Familien privat untergebracht waren und in einer Gaststätte essen und sich
aufhalten mußten, was über die Unterstützung durch den aktiven und angesehenen
Ortsvorsteher hinaus die Kontaktaufnahme erheblich erleichterte. Hinzu kamen eine
offensichtliche Aufgeschlossenheit der Bevölkerung Außenstehenden gegenüber und eine
große Bereitschaft, von der vergangenen Zeit zu berichten.
Die gute Aufnahme der Befragung läßt sich u. a. daraus ersehen, daß kein Interview
verweigert wurde. Gerade der gute persönliche Kontakt zu einem großen Teil der
Dorfbewohner schloß aber die Gefahr ein, sich ,die Sichtweise einer bestimmten Gruppe
oder Partei, z. B. der offiziellen Dorfvertretung, zu eigen zu machen. Andererseits
mußten die Befrager vermeiden, mit einer bestimmten Gruppe identifiziert zu werden. Es
wurde daher versucht, nicht nur die von der Gemeinde benannten Gewährsleute zu befragen,
sondern über diesen vorherbestimmten Kreis hinaus auch mit unvorbereiteten Personen
Gespräche zu führen.
Das Schleifsteinhauergewerbe als Ausgangspunkt zu nehmen, war insofern erschwerend, als
die Dorfbewohner Fragen nach der Arbeit im Steinbruch erwarteten und es einiger Mühen
bedurfte, um sie von weitergehenden Fragen nach dem kulturellen Leben heute und in der
Vergangenheit nicht wieder auf die Produktion der Schleifsteine abgleiten zu lassen. Die
Begründung, die weiterreichenden Fragen seien notwendig, um das gesamte Dorfleben zu
erfassen, wurde von den meisten Befragten ohne weiteres akzeptiert. Ein Kriterium für die
Richtigkeit der Angaben in diesem Bereich, für den kaum schriftliche Quellen vorliegen,
kann nur aus der Übereinstimmung möglichst vieler Aussagen gewonnen werden. Dieser
Befragungsbereich, der das kulturelle Dorfleben und somit die Repräsentation des Dorfes
nach außen betrifft, schien bei allen Befragten eine Identifizierung mit ihrem Dorf zu
bewirken. Offensichtlich war bei vielen Dorfbewohnern die Unsicherheit groß, ob sie nun
die vorhandenen alten Bräuche betonen oder ob sie ihre Bedeutung abschwächen sollten, um
ihr Dorf in möglichst gutem Licht darzustellen. Auf der einen Seite war es
offensichtlich, daß die Befrager hauptsächlich die traditionellen Formen erfahren
wollten. Andererseits erschien es besonders jüngeren Gewährsleuten unverständlich, daß
wir uns um etwas bemühten, was ihre Bekannten aus der Stadt und auch sie selbst als
rückständig empfanden. Die Reaktion war besonders bei älteren Leuten die spontane
Betonung der alten Formen: "Das wird hier noch so wie früher gemacht", obwohl
sich durch Nachfragen nicht selten ergab, daß der entsprechende Brauch seit 10 Jahren
nicht mehr ausgeübt worden war, so das "Schleifen" bei unliebsamen Freiem.
Andere erwähnten die alten Formen, bestritten aber sofort ihre Bedeutung für das
Dorfleben. Eine leichte Korrektur einiger Befragungsergehnisse und eine Hilfe für die
Deutung des Materials konnte durch teilnehmende Beobachtung erzielt werden, so konnten
z.B. beim Fastenfeuer die Ereignisse zu dem Zeitpunkt festgehalten werden, in dem sie sich
ereigneten. Eine gewisse Ergänzung und Kontrolle des Materials wurde durch ausführliche
Gespräche mit überdurchschnittlich gut informierten Personen angestrebt.
Das kulturelle Leben dieses Dorfes muß vor dem Hintergrund der geographischen Lage, der
geschichtlichen Entwicklung und der Sozialstruktur des Ortes gesehen werden (vgl. die
allgemeine Einleitung).
Die Verkehrsungunst des Gebietes dürfte der Grund für das fast vollständige Fehlen von
Industriebetrieben sein (1956: 21 Betriebe mit 38 Beschäftigten, 1960: 14 Betriebe mit 23
Beschäftigten. (Vgl. Die wirtschaftliche Entwicklung in den Fördergebieten des Bundes.
Einzeluntersuchungen ausgewählter Gebiete, Bd. 1 Eifel, Bad Godesberg 1963, S.118.).
Die höchsten Arbeiterzahlen finden wir in einer Kunststeinfabrik und in einem Sägewerk
mit je 4 Beschäftigten. Ca. 20-30 Männer arbeiten heute noch in 5 verschiedenen
Sandsteinbrüchen (1960: 28 Beschäftigte in 6 Steinbrüchen), eine Arbeit, die bis zum 2.
Weltkrieg zeitweise fast alle arbeitsfähigen Männer aus Neidenbach ausübten. Auch aus
den umliegenden Dörfern kam eine große Schar von Arbeitern in die Neidenbacher
Sandsteinbrüche. Die Zahl der Einpendler war allerdings starken Schwankungen unterworfen
(um 1910 waren es bis zu 200). Die Landwirtschaft spielt heute nur noch eine geringe
Rolle, es gibt nur 20 Vollbauern im Dorf. Von 124 landwirtschaftlichen Betrieben (1960)
hatten 102 eine Betriebsgröße von unter 5 ha, nur 1 Betrieb war größer als 20 ha. Es
gab 1960 ca. 20 Schlepper, keinen Mähdrescher und 2 Melkmaschinen. Die Flurbereinigung
war noch nicht durchgeführt.1854 hatte Neidenbach 434 Einwohner, das waren 76 Familien,
davon waren 34 Landwirte, 8 Handwerker, 2 Händler, 28 Tagelöhner, 4 Staats- oder
Gemeindebedienstete. 1818 soll Neidenbach noch aus 18 Stockgütern bestanden haben. Heute
ist der größte Teil der Einwohner gezwungen, sich außerhalb des Ortes den
Lebensunterhalt zu verdienen. Daher rührt die sehr hohe Zahl von Pendlern (220 Tages-,
Wochen- und Saisonpendler 1970, darunter 35 Frauen). 1950 betrug die Zahl der Auspendler
52 bei einer Einwohnerzahl von 877, 1956 104 Auspendler bei 821 Einwohnern; 1960 140
Auspendler bei 822 Einwohnern. Die Zahl der Auspendler hat also nach dem 2. Weltkrieg mit
dem Rückgang der Schleifsteinhauerei ständig zugenommen. Einpendler gibt es nach 1950
nicht mehr.
Ca. 20 Familien haben eine Nebenerwerbsquelle in der Vermietung von Wohnungen und Zimmern
an die in der Nähe stationierten Amerikaner. Zentrale Funktionen übt Neidenbach heute
nur in geringem Maße aus: es gibt weder Arzt, Zahnarzt noch Tierarzt (nur einen
Tierheilkundigen), kein Krankenhaus, keine Apotheke, nur 1 Spar- und Darlehenskasse
(Raiffeisenniederlassung) und eine 4-klassige Volksschule, 1 Kirche, 1 Tankstelle, 4
Gaststätten, von denen nur eine Übernachtungsmöglichkeiten ( 7 Betten) hat, 9
Geschäfte, die vorwiegend Artikel des täglichen Bedarfs führen. Nur 51 Familien haben
Telefonanschluß (1970). Von den 216 Häusern (=176 Gebäudekomplexe) sind ca. 35 in den
letzten 10 Jahren neuerbaut, überwiegend am Ortsrand.
Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der Untersuchung gesehen werden, die an
einigen ausgewählten Beispielen dargelegt werden sollen. Das kulturelle Leben in
Neidenbach zeigt eine eigentümliche Verzahnung von modernem Leben und überkommenen
Formen. Augenfälliges Symbol für das Neue ist die Rakete neben dem Sportplatz am
Ortseingang, ein Geschenk der in Neidenbach stationierten amerikanischen Soldaten, jedoch
gleich daneben wird in der Fastenzeit das F a s t e n f e u e r abgebrannt, ein Zeichen
für das Bewahren alter Traditionen in diesem Dorf.
Wie weit dieser Brauch noch lebendig ist, und ob den Dorfbewohnern das Nebeneinander von Tradition und Moderne
bewußt ist, soll im Zusammenhang mit der Schilderung der Vorgänge diskutiert werden. Am
ersten Fastensonntag errichten die Jungen des Dorfes, die ein Jahr aus der Schule
entlassen sind, auf einem Hügel neben dem Sportplatz ein Holzkreuz, das mit Stroh
umwickelt ist, und brennen es mit dem 19-Uhr-Läuten ab, wozu einer den "Engel des
Herrn" vorbetet (vgl. Abb. 7 und 8). Bei einem darauf folgenden Heischegang werden
Eier und Geld gesammelt.
Für das Geld werden Getränke gekauft, ein Teil der Eier wird gebraten und verzehrt, der
Überschuß verkauft. Früher war es nun so, daß die jüngste einheimische Braut im Dorf
die Eier braten mußte. Seit zwei Jahren findet das Eierbraten in der Gaststätte statt,
in der auch getrunken wird. Als Grund für diese Änderung gaben die Jugendlichen die
Arbeit, die man niemandem mehr zumuten könne, und die Schwierigkeiten der Raumbeschaffung
an. Bei der Befragung wußte außer den Beteiligten nur eine Frau von dieser Neuerung, die
übrigen berichteten von der früher üblichen Form. Dies zeigt die Gefahr einer
Zufallsauswahl der Gewährsleute. 
Darüber hinaus spiegelt sich hier etwas von der
oben angeführten Einstellung der Bevölkerung den Befragern gegenüber wider. Der
Befragung nach hätte das Fastenfeuer eine viel größere Rolle spielen müssen, als sich
bei der direkten Beobachtung herausstellte, nur ein paar Jugendliche fanden sich noch
zusätzlich als Zuschauer ein. Es wurde aber als richtig angesehen, diesen Brauch, der als
alt gilt, auch entsprechend zu betonen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die
Einstellung der jugendlichen Akteure selbst. Sie reichte von unreflektierter Zustimmung:
"Das ist doch schon immer so gemacht worden", bis hin zu ablehnender Kritik:
"Den Winter vertreiben im Zeitalter des Mondfluges (zur gleichen Zeit fand ein
amerikanischer Mondflug statt) zeigt doch unsere Rückständigkeit". Die Frage, warum
er denn teilnehme, beantwortete der Kritiker mit dem Hinweis auf die Kameradschaft unter
den früheren Klassenkameraden, die jeden einzelnen verpflichte, dafür zu sorgen, daß es
nicht ihr Jahrgang sei, der mit dem Brauch aufhöre. Wenn es nach ihm ginge, fände das
Fastenfeuer nicht statt. Im übrigen sorgten offensichtlich in diesem Jahrgang ein oder
zwei besonders aktive Jungen dafür, daß die anderen teilnahmen.
Daß die Form des Brauches nicht nur von den Ausführenden selbst abhängt, sondern auch
anderen Einflüssen unterworfen ist, kann am Beispiel des Fastenfeuers ebenfalls gezeigt
werden. Die Jungen hatten in den letzten Jahren das Stroh für das Fastenfeuer nicht mehr
wie früher mit Handwagen zusammengefahren, sondern einen Traktor mit Anhänger benutzt.
Wegen der auswärtigen Beobachter ließ der Ortsvorsteher den Anführer der Jungen zu sich
kommen, damit wie früher das Stroh mit Handwagen zusammengefahren wurde (vgl. Abb. 6).
Die Folge war, das Stroh wurde anfangs mit Handwagen geholt, dann auf einen
Traktoranhänger geladen und mit dem Traktor zu dem vorher errichteten Holzkreuz gefahren.
Das Kreuz selbst war - ebenfalls im Hinblick auf die Besucher - so groß angefertigt
worden, daß es den Jungen nicht gelang, es vollständig aufzurichten (vgl. Abb. 8). Vermeiden läßt sich eine derartige
Beeinflussung durch die Anwesenheit von Beobachtern wohl nicht. Trotzdem konnten durch die
Beobachtung einige Ergebnisse der Befragung korrigiert oder gesichert werden, 1. daß ein
Zusammenbringen des Strohs mit Handwagen normalerweise nicht mehr erfolgt, obwohl dies aus
einigen Antworten hervorging, 2. daß das Holzkreuz am Samstag aufgestellt, das Stroh aber
erst am Sonntag angefahren und umwickelt wird, um ein vorzeitiges Abbrennen durch Jungen
aus den Nachbardörfern zu vermeiden. Bei der Befragung konnten viele Dorfbewohner nicht
genau sagen, ob am Samstag oder Sonntag Stroh gesammelt werde. Daneben zeigt dieses
Beispiel recht deutlich, daß die Ansicht einer angesehenen Persönlichkeit die Form eines
Brauches direkt beeinflussen kann. Auch die Jungen konnten den Ablauf variieren, indem sie
den Küster baten, das 19-Uhr-Läuten auf 18.30 Uhr vorzuverlegen, damit sie genügend
Zeit zum Eiersammeln hätten. Der Küster empfand es als selbstverständlich, auf ihre
Wünsche einzugehen.
Die Veränderbarkeit dieses Brauches scheint u. a. damit zusammenzuhängen, daß die
Akteure von Jahr zu Jahr wechseln. Bei neuerem Brauchtum, z. B. M a r t i n s u m z u g
und - f e u e r, bleiben die Organisatoren wenigstens während mehrerer Jahre die
gleichen. Als "Martin" fungierte bis 1970 der einzige Pferdebesitzer im Dorf.
Die Organisation liegt bei Lehrern und Schulkindern. Die aktive Teilnahme der Bevölkerung
wird mehr gefordert als beim Fastenfeuer: zum einen durch die Finanzierung (Loskauf und
Spenden), zum andern durch die Beteiligung an der Verteilung der Verlosungsgewinne (1.
Preis ist eine Martinsgans) und nicht zuletzt durch die Mitwirkung der Kinder. Trotzdem
berichteten viele der Befragten zuerst über das Fastenfeuer und erst nach einer
Zusatzfrage über das Martinsfeuer.
Über den ersten Martinszug in Neidenbach gingen die Meinungen auseinander: "Seit der
Hitlerzeit", "Lehrer Paulus hat ihn 1954/55 eingeführt". Das Fastenfeuer
stuften alle Befragten als "sehr alt" ein.
Ein ähnliches Nebeneinander von traditionellen und modernen Formen finden wir bei
Nachbarschaften und Vereinen.
Die Nachbarschaft als überlieferte Form der Sachhilfe und der Geselligkeit hat einen Teil
ihrer Funktion an die Vereine abgetreten, die heute über den reinen Sachzweck hinaus
Feier und Feierabend eines großen Teils der Dorfbewohner mitbestimmen. Dennoch besteht
die Nachbarschaft der Form nach noch. Sie ist straßenweise begrenzt und jeder
Neidenbacher kann genau angeben, welche Häuser als Grenze seiner Nachbarschaft anzusehen
sind. Früher bildeten ca. 7-8 Gehöfte eine Nachbarschaft, aber besonders am Ortsrand
wuchsen sie durch Neubauten sehr schnell an (bis zu 17 Häusern). Die Nachbarschaftshilfe
bei verschiedenen Arbeiten hat nach dem 2. Weltkrieg kaum noch jemand in Anspruch
genommen. Die Bedeutung der Nachbarschaft ist in den meisten Fällen auf die üblichen
Gaben und die Teilnahme bei Hochzeit, Begräbnis, Taufe und Kommunion beschränkt. Und in
den "großen" Nachbarschaften wird dies auch nur deswegen noch beibehalten, weil
keiner als erster aufhören will. Auch sind die neu hinzugekommenen Nachbarsfrauen noch
verpflichtet, die anderen Frauen zum Kaffee einzuladen zum Zeichen der Aufnahme in die
Nachbarschaft. Jedoch geschieht dies nicht mehr in allen Straßen. Die Befragten
begründen den Wandel damit, daß man früher auf die nachbarliche Hilfe angewiesen war,
während man heute durch die vielen technischen Hilfsmittel unabhängig geworden sei.
Früher halfen die Nachbarn beim Hausbau, sie brachen z. T. im Steinbruch die Steine für
das Haus mit, fuhren für eine Flasche Schnaps die Steine zur Baustelle, brachten die
Maurer, die von auswärts kamen, unter und halfen manchmal beim Hausbau selbst mit. Heute
beauftragt man damit einen Bauunternehmer. Falls man Hilfe braucht, fragt man eher die im
Dorf wohnenden Verwandten als die Nachbarn. Allerdings scheinen sich die Steinhauer, die
im gleichen Betrieb beschäftigt waren, auch früher schon gegenseitig beim Hausbau
geholfen zu haben, unabhängig davon, ob sie Nachbarn waren oder nicht. Wenn heute noch
nachbarschaftliche Hilfe in Anspruch genommen wird, wird sie meist mit Geld abgegolten.
Die Bedeutung der Nachbarschaft für die Gestaltung des Feierabends ist vollständig
geschwunden. Neben den Vereinen wurde das Fernsehen als Grund für diesen Wandel
angegeben. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem "das Fernsehen" ins Dorf kam, saß an
den langen Winterabenden die Nachbarschaft reihum bei einem Nachbarn zusammen und
erzählte oder spielte Karten, früher "Mensch" und "Bauer", später
auch "Skat". Seit fast alle Häuser "Fernsehen" haben, hat diese Sitte
aufgehört. Auch die unterschiedliche Arbeitszeit hat dafür gesorgt, diese
Feierabendgemeinschaften aufzulösen. Der Schwerpunkt der Erholung hat sich mit der
Veränderung der Arbeitswelt auf das Wochenende verlagert, dessen Gestaltung häufig durch
die Mitgliedschaft in einem Verein bestimmt wird. Der Personenkreis, der hier
zusammentrifft, wird nicht mehr von vornherein festgelegt wie die Nachbarschaft, sondern
hier haben sich Personen mit gleichen Interessen freiwillig zusammengeschlossen.
In Neidenbach bestehen drei Vereine: Der Sportverein (Fußballverein), mit ca. 50 Aktiven
und ca. 100 passiven Mitgliedern, die Feuerwehrkapelle mit 25 aktiven Mitgliedern - zur
Feuerwehr gehören 45 Männer - und der Kirchenchor, der einzige Verein, in dem auch
Frauen Mitglied werden können, mit 30 Mitgliedern. Selbst wenn einige
Doppelmitgliedschaften bestehen, so ist die Zahl der zahlenden Mitglieder mit ca. 25 % der
Dorfbewohner recht hoch. Diese Vereine bestimmen nicht nur die Freizeit ihrer Mitglieder,
sondern durch ihre Mitwirkung an den Dorffesten und durch ihre eigenen Feste auch die
Gestaltung des Dorflebens.
Die Versuche, den Neidenbachern etwas Besonderes zu bieten, reichen von
Theateraufführungen, die bis 1955 von Kirchenchor und Feuerwehrkapelle veranstaltet
wurden, bis hin zu Kappenfesten in der Karnevalszeit durch den Kirchenchor. Der Leiter des
Kirchenchors hatte im Jahre 1952 mit Düsseldorfer Verwandten eine Karnevalsveranstaltung
besucht, die ihm so gut gefiel, daß er einen "Kappenabend" mit Büttenreden in
Neidenbach einführte. Er selbst schrieb die Büttenreden, in denen das Dorfleben aber
weitgehend ausgeklammert wurde, um niemanden zu verletzen.
Als 1962 kein Saal mehr zur Verfügung stand, schlief das Interesse rasch ein. Dennoch
zeigt sich hier deutlich, daß eine aktive Person genügt, um eine Neuerung im kulturellen
Dorfleben einzuführen. Daß die ungünstigen äußeren Umstände diesen Impuls wieder
zunichte machten, zeigt nur, daß sehr einfache Voraussetzungen oft über Weiterbestand
oder Verschwinden eines Brauches entscheiden.
Durch Tagesfahrten und Familienfeste versuchen die Vereine, die Familien der Mitglieder
anzusprechen. Doch auch das Vereinsleben hat zeitweise stark unter dem Interesse für das
Fernsehen gelitten, so daß z. B. die Probeabende des Kirchenchors wegen interessanter
Fernsehstücke kurzfristig verlegt und die Zahl der Proben in der Woche von zwei auf eine
reduziert werden mußte. Übereinstimmend aber wurde darauf hingewiesen, daß das
Interesse am Fernsehen nachlasse und von daher die Vereinsabende nicht mehr beeinflußt
würden. Die große Zahl der Pendler tut dagegen den Vereinen keinen Abbruch. Die
Wochendpendler sorgen dafür, daß sie am Samstagabend ihren Verein besuchen können, die
Tagespendler nehmen selbstverständlich an Probeabenden während der Woche teil. Bei der
Befragung der Vereinsvorsitzenden zeigte sich, daß sie die Bedeutung ihrer Vereine
nüchterner beurteilen als die meisten übrigen Dorfbewohner. Ebenso lagen die angegebenen
Mitgliederzahlen bei den Vorsitzenden immer niedriger als bei den übrigen Befragten. Der
Versuch, den Ort möglichst günstig darzustellen, könnte auch hier der Grund für
Übertreibungen sein.
Eine ähnliche Einstellung zeigte sich bei der Befragung über ein spezielles
Steinhauerfest am Barbaratag. Fast alle Befragten erwähnten eine in der Kirche vorhandene
Barbarastatue und eine Barbarafahne. Allein der Schwenker der Barbarafahne wußte nichts
von ihrem Vorhandensein. Er schwenke zwar vor dem Altar eine Fahne, aber das sei keine
Barbarafahne. Die Barbarastatue stellte sich als Gipsabguß heraus, während wir eine
schöne aus Sandstein gehauene Barbara auf dem Boden des Pfarrhauses fanden, von deren
Vorhandensein die Dorfbevölkerung aber offensichtlich keine Kenntnis besaß. Erstaunlich
ist die Tatsache, daß die Steinhauer nicht in irgendeiner Form zusammengeschlossen waren,
obwohl in vielen Familien fast drei Generationen im "Bruch" gearbeitet haben,
also im Tagesablauf, den Lebensbedingungen und der Erfahrung durchaus Ähnlichkeiten
bestanden.
Zusammenfassend kann man einen vorläufigen Gesamteindruck so wiedergeben: das
Vorhandensein alter Bräuche war im Bewußtsein aller Befragten stark verankert und wurde
besonders von älteren Gewährsleuten auch betont, genaue Detailkenntnisse besaßen aber
nur die unmittelbar Beteiligten. Der Wandel der alten Formen war vielen offensichtlich
nicht bewußt geworden. Die Beschreibungen der relativ modernen Erscheinungen
(Martinsfeuer, Vereine) stimmten daher eher mit der Wirklichkeit überein als die Berichte
von überlieferten Vorgängen. Bei manchen Fragen waren die Gewährsleute unsicher, wie
weit sie Auskunft geben sollten, z. B. bei der Frage nach Wallfahrten, die sie unternommen
hatten. Dagegen beschrieben sie den Ablauf des nach dem 2. Weltkrieg eingeführten
Karnevals kölnischer Prägung ausführlich und ohne Hemmungen.
Im Laufe der Untersuchung bestand eine Schwierigkeit für den Befrager darin, die
weitschweifigen Antworten in manchen Bereichen abzubremsen und überzuleiten zu Gebieten,
auf denen unsere Kenntnis noch Lücken aufwies oder des Beweises bedurfte. Bei der
ständig wachsenden Detailkenntnis des Fragenden lag die Gefahr nahe, durch
unbeabsichtigte Suggestivfragen die gewünschte Antwort hervorzulocken. Hier liegt ein
weiterer Nachteil einer gesprächsweise geführten Befragung, besonders dann, wenn ohne
Tonband gearbeitet wird, eine Kontrolle der gestellten Fragen und Zusatzfragen also nicht
mehr möglich ist. Die Notwendigkeit, diese Art der Befragung zu wählen, war - wie
eingangs betont - von dem abzufragenden Bereich bestimmt.
Die persönliche Befragung ließ deutlich werden, daß sich mit ihrer Hilfe nicht nur, wie
etwa durch teilnehmende Beobachtung, ein Punkt einer Entwicklung festhalten läßt,
gleichsam als Momentaufnahme, sondern daß durch das Abfragen früherer Zustände auch die
Gesamtentwicklung erhellt werden kann. Eine Ergänzung durch teilnehmende Beobachtung
konnte für die heutigen Formen die Richtigkeit der Befragungsergebnisse bestätigen.
Für das Dorfleben der Vergangenheit sind wir auf die leider oft spärlichen
Überprüfungsmöglichkeiten an Hand von Akten und Statistiken angewiesen.
Trotzdem konnten durch direkte Befragung umfassende Angaben über das kulturelle Leben
dieser Gemeinde gewonnen werden, die eine gewisse Gültigkeit beanspruchen und wenigstens
als Arbeitsgrundlage im Zusammenhang größerer Arbeiten benutzt werden können.
Um das kulturelle Leben des Dorfes Neidenbach in seiner Abhängigkeit von den
verschiedenartigsten Kräften, die es geformt haben, darzustellen, muß es innerhalb der
Landschaft, in der es liegt, interpretiert werden. Ohne vergleichbare Daten benachbarter
Dörfer ähnlicher oder andersartiger Struktur läßt sich eine Wertung der gewonnenen
Ergebnisse nicht vornehmen. Wir können nur vermuten, welche Kräfte in diesem Dorf
Einfluß auf die gemeinschaftlichen Äußerungen der Bewohner gewonnen haben.
Die Aufgeschlossenheit der Moderne gegenüber beruht sicher z.T. auf dem großen
Auspendleranteil der Bewohner, da diese außerhalb des Dorfes mit anderen Lebensformen
konfrontiert werden und gezwungen sind, zu vergleichen und sich anzugleichen.
In früheren Zeiten scheinen die zeitweise großen Einpendlerscharen (Steinbrucharbeiter)
eine ähnliche Funktion gehabt zu haben.
Die Bewahrung tradierter Formen ist wohl nicht allein mit der Lage des Ortes
(Reliktgebiet), sondern vielmehr mit dem schon frühzeitigen Eindringen fremder
Anschauungen und Ansichten zu erklären, die den Dorfbewohnern ein Gefühl für die
eigenen Formen gaben. Außerdem darf in diesem Zusammenhang die Mentalität der Bewohner
nicht außer acht gelassen werden, denen ihre Aufgeschlossenheit selbst bewußt ist.
"Also Neidenbach hat immer gut gefeiert. Es war rundherum bekannt, daß hier gut
gefeiert wurde . . . Wir waren immer bekannt als lustiges Volk, auch jetzt noch."
Quellenangabe: Festschrift Matthias Zender, 1970
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