Die Familie
Von Dorette Kleine
Die Grundlage für die Darstellung und Auswertung der familiären Zusammenhänge in
Neidenbach bilden eigene Befragungen in dreizehn Familien sowie die in etwa 40 weiteren
Fällen von Kommilitonen gesammelten Fakten zu diesem Themenkreis. Der Umfang des
Materials - es ist unter dem Aspekt der einwöchigen Studienfahrt zu sehen, die sich die
Einführung in die Feldforschung zur Aufgabe gestellt hatte - ergibt nur bedingt ein
repräsentatives Gesamtergebnis. Allerdings ließe sich bei einer Fortführung der
Untersuchung aus der Summe der einzelnen Tatbestände mit den daran sichtbaren Verläufen
und Tendenzen ein repräsentatives Bild zusammenfügen.
Einige methodische Überlegungen sind im Beitrag von H. Bickel bereits erörtert worden.
Bei der Erkundung über das Familienwesen zeigte sich folgende Schwierigkeit: Während des
Tages fiel die Befragung in die Arbeitszeit, in der generell Frauen anzutreffen waren. Es
galt nun einerseits, da nicht in jedem Fall eine Arbeitsunterbrechung im Haushalt zu
erwarten war, diese anfallenden Arbeiten mit der Befragung zu koordinieren und
andererseits die Befragung am Abend besonders an die männlichen Familienmitglieder zu
richten, damit das Gleichgewicht weiblich-männlich hergestellt war. Angehörige
verschiedener Generationen zu befragen, war ohne Schwierigkeiten möglich.
Zwei Merkmale geben bis heute den Neidenbacher Familien ihre Prägung: der Gewerbeort mit
seiner ehemals ortsansässigen Arbeiterschaft sowie deren Herkunft aus mittel- und
kleinbäuerlichen Schichten des umgebenden Raumes. Darüber hinaus hat die
Dorfbewohnerschaft, die bis zum 2. Weltkrieg in relativer Abgeschlossenheit von den
Städten lebte, ihre Isolation durch den Einfluß des Pendlerwesens und der Massenmedien
aufgegeben, was eine Durchdringung von städtischen und ländlichen Lebensformen
ermöglicht und zur Anpassung der agraren an die industrielle Gesellschaftsverfassung
geführt hat. Von da her ist die Landfamihe "ein Typ der Familie der industriellen
Gesellschaft, keineswegs aber mehr ihr Gegensatz".
Wenn sich auch in der Realität eine Vielfalt von differenzierten Familienstrukturen
zeigt, so ist es m. E. zulässig, von d e r Familienstruktur zu reden, weil die Familien
berufsspezifische und besitzspezifische Gemeinsamkeiten haben. Die vier folgenden Gruppen
gliedern die befragten Familien nach Beruf und Besitz in Hinblick auf die
Erwerbsquellen:
a) Steinbrucharbeiter (bzw. -rentner) und Kleinstlandwirtschaft,
b) (ehemalige) Steinbrucharbeiter oder heutige Industriearbeiter und
klein- oder mittel- bäuerlicher Besitz,
c) Steinbruchbesitzer und Kleinlandwirtschaft bzw. keine Landwirtschaft,
d) Landwirte und mittelbäuerlicher Besitz.
Der landwirtschaftliche Besitz und seine Bewirtschaftung spielen eine wesentliche Rolle
für die Familienform. Wenn Kötter schreibt: "Das Kennzeichen der ursprünglich
bäuerlichen Familie ist ihre Totalität als Arbeits- und Lebenseinheit. Vom
Geschlechterzusammenhang her gesehen ist sie trigenerativ, d. h. sie umfaßt außer dem
wirtschaftenden Ehepaar und dessen Kindern auch die Altenteiler und in vielen Fällen
unverheiratete Geschwister des Bauempaares", trifft das modifiziert bis heute zu. Der
homogene Charakter von Arbeits- und Lebensbereich hat in Neidenbach zwar durch den
Arbeitsplatz im Steinbruch sowie durch das spätere Pendeln zu außerhalb liegenden
Arbeitsstellen nie in dieser totalen Form bestanden, aber die geringen räumlichen
Entfernungen ermöglichen in der freien Zeit den Neben- und Zuerwerb aus der
Landwirtschaft. Die wesentliche Verdienstquelle ist in der Vorstellung der Leute von jeher
die Lohnarbeit, wenn sie auch in mehrfach auftretenden Krisenzeiten quantitativ der
Produktion von Naturalien unterliegt. Da aber alle Familienmitglieder ihre ganze bzw.
restliche Arbeitskraft in die landwirtschaftliche Arbeit investieren, wenn das auch mit
unterschiedlichen Anteilen geschieht, ist es gerechtfertigt, von einer relativ hohen
Arbeits- und Lebenseinheit zu sprechen. Wenn man einmal von Maschinen und sonstigen
Hilfsmitteln absieht, bildet die Anzahl der kooperierenden Familienmitglieder die
Grundlage für das Arbeitspotential.
In diesem Zusammenhang muß die Großfamilie genannt werden, die im Zuschnitt den
bäuerlichen Erfordernissen entspricht und vor allem in den reinen Bauembetrieben bis
heute ausgeprägt ist. Der Terminus Großfamilie meint das Strukturphänomen der
erweiterten Familie, d. h. die Kemfamihe als "Gruppe von Mann und Frau mit ihren
unverheirateten und unmündigen Kindern", deren Zahl klein sein kann, wird durch eine
Anzahl von kooperierenden Verwandten einer oder mehrerer Generationen erweitert. Das genau
trifft in Neidenbach für die überwiegend realgeteilten landwirtschaftlichen Betriebe zu.
Da gibt es den unverheirateten Bruder. Obwohl die Sandsteingruben um 1900 für alle
männlichen Ortsbewohner günstige Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten boten, gibt es
zahlreiche Beispiele für das Verbleiben auf dem Hofe ohne selbständige Tätigkeit. In
einigen Fällen schufen sich unverheiratete Brüder oder Onkel eine Sonderposition als
Steinfuhrleute, blieben aber meist in der Abhängigkeit des Hofes, auf dem die Pferde
untergestellt und versorgt wurden. Die nicht verheirateten Schwestern oder Tanten dagegen
waren früher ganz in den Rahmen der Großfamilie integriert. Erst in letzter Zeit kommt
es vor, daß sie bei unveränderter Bindung an die Großfamilie durch zusätzliche
Lohnarbeit in der Industrie der Umgebung für den eigenen Unterhalt sorgen.
Während mir kein Fall bekannt ist, daß zumindest zwei oder gar mehrere Kernfamilien
innerhalb des Großfamilienverbandes leben, wenn z. B. zwei oder mehrere Geschwister
verheiratet sind und mit ihren Familien zusammenleben, ist der Dreigenerationen-Haushalt
häufig anzutreffen, bei dem die sogenannten Altenteiler bis in das hohe Alter einen Teil
der Landwirtschaft bzw. des Hauswesens versehen. Dieser Dreigenerationen-Haushalt
entsteht, indem ein verheiratetes Kind mit seiner Familie im Stammhaus der Eltern bleibt
und in gemeinsamer Haushaltsführung lebt (gemeinsame Wirtschaftsküche, gemeinsame
Wohnküche, getrennte Schlafbereiche). Die Haushaltsführung übernimmt die junge Frau.
Bei dem anderen Typus gründen die Kinder zunächst eigenständige Haushaltungen und
nehmen später bei Bedarf die Eltern oder einen Elternteil auf. Diese Form ist mir
wahrscheinlich deshalb nicht begegnet, weil die Elternteile, solange sie leben, bisher
durch im Stammhaus lebende Geschwister versorgt werden. Eheleute, deren Kinder verstorben
sind oder kinderlose Eheleute, sichern sich häufig durch Annahme eines fremden Kindes,
eines "Beisatzes", dem sie nach ihrem Tod ihren Besitz vermachen.
Die geschilderten Verhältnisse sind charakteristisch für die bäuerliche Familie in
Neidenbach. Kennzeichnend für die Familiengröße ist aber auch die Zahl der Kinder.
Waren bis 1914 zehn und mehr Kinder keine Seltenheit, so sind heute zwei bis drei Kinder
die Regel, sowohl bei Bauern als auch bei Arbeitern.
Bei den früheren Gegebenheiten war die Existenz nur gesichert - und damit ist die Deckung
des täglichen Lebensbedarfs gemeint -, wenn die Kinder am Wirtschaftsprozeß teilnahmen.
Sie wurden regelmäßig zu damals noch schweren Feldarbeiten herangezogen, auch zum Heuen
in der Frühe vor Unterrichtsbeginn, trugen Holz und Gras in der "Hoot" nach
Hause und verrichteten daneben viele kleine Aufgaben wie Essentragen, Viehtreiben, Hüten
usw. Das Amt des Schweinehirten, der die Tiere auf brachliegende Felder oder in den Wald
trieb und hütete, war begehrt, weil es von der Gemeinde bezahlt wurde. Noch 1950 wurden
die Schweine in der Gemeindeherde gehütet. Durch all diese Beschäftigungen war gar nicht
an regelmäßigen Schulbesuch zu denken, auch wurde der Ausbildung wenig Bedeutung
beigemessen. Nach der Schulentlassung verdingten sich die Jungen als Knechte, bis sie
stark genug waren, die Steinbrucharbeit aufzunehmen. Die Mädchen verrichteten die
Hauswirtschaft oder waren "in Diensten". Neidenbach ist bekannt als Ort, der
früher Knechte und Mägde vor allem für das fruchtbare Nimstal stellte. Söhne, die ein
Handwerk erlernten, waren selten. Heute absolvieren die Jungen und Mädchen nach dem
Hauptschulabschluß eine Lehre, oder sie besuchen die verschiedensten Formen von
weiterführenden Schulen. Der Lehrer, der früher häufiger neben dem Pastor bei der
Berufswahl zu Rate gezogen wurde, gibt auch heute auf Wunsch vieler Eltern Empfehlungen
für die Schulausbildung, die dann richtungweisend für die Berufswahl ist. Allerdings ist
festzustellen, daß die Eltern bei der Ausbildung der Söhne bereit sind, weit mehr Kosten
auf sich zu nehmen als bei den Töchtern. Bei den Mädchen wird fast immer stillschweigend
eine spätere Heirat vorausgesetzt, und die Ausbildung, die über eine Lehrzeit nach
Vollendung des 9. Schuljahres hinausgeht, wird als Luxus angesehen, den man sich
allerdings schon unter der Voraussetzung, daß der erlernte Beruf einen Nutzen für die
spätere Ehe und Familie bringt (z. B. Ausbildung in Haushaltungsschulen), zu leisten
bereit ist.
Eine der Voraussetzungen für das gewandelte Verhalten bei der Berufsausbildung ist die
finanzielle Besserstellung, die ein Disponieren im größeren Rahmen ermöglicht. Aber
auch die Ansicht, "daß man den Kindern eine gute Ausbildung mitgeben muß",
artikuliert die Auffassung, daß die Jugendlichen erst durch eine längere und intensivere
Ausbildung dem heutigen leistungsbetonten Produktionssystem gewachsen sein können. Ein
weiteres Moment scheint die gewandelte Familienstruktur zu sein, bei der der
Gruppencharakter zugunsten des Individualcharakters zurücktritt, der ein entscheidendes
Merkmal der Kemfamilie darstellt. Man geht auf die Berufswünsche der Kinder ein und
berät in der Familie. An Stelle einer gezielten Berufsberatung orientiert man sich bei
der Berufswahl an Erfahrungen, die Nachbarn oder Verwandte, besonders auch außerhalb
Wohnende, hierbei gemacht haben, oder man diskutiert die Anregungen, die die Kinder selbst
aus der Schule und ihrem Freundeskreis mitbringen. Neben dem spezifischen Besitz- und
Familienbewußtsein, das die früheren Generationen prägte, tritt mehr und mehr die
Auffassung, daß man seinen Status auch durch die Position im Berufsleben erwirbt. In der
Regel wohnen die Kinder während der Lehrzeit und auch noch nach Abschluß der
Berufsausbildung im Elternhaus, obwohl die Arbeitsstellen außerhalb des Ortes bis zu 20
km entfernt liegen. Bei Lehrstellen oder Arbeitsplätzen in größerer Entfernung, z. B.
Düsseldorf, Mainz, bleiben die Jugendlichen als Wochenpendler im Elternhaus. Auf diese
Weise bleiben sie dem Dorfleben bzw. dem Geschehen in ihrer Altersgemeinschaft und dem
familiären Bereich verbunden. Die Lehrlinge, die überwiegend zu Hause leben, geben ihren
Verdienst durchweg ab und erhalten ein Taschengeld. Bei den Mädchen werden die
einbehaltenen Beträge meist zur Anschaffung der Aussteuer verwandt.
Bei der Beleuchtung der finanziellen Situation der Familien müssen wir die
verschiedensten Einkoinmensquellen berücksichtigen. Neben dem Bareinkommen durch Lohn
oder Rente spielen seit dem 2. Weltkrieg die Vermietung zunächst von Zimmern, dann
Wohnungen und schließlich Häusern an die im Ort stationierten amerikanischen Soldaten
und deren Familien eine große Rolle. In jüngster Zeit zeigen sich auch Ansätze zur
Vermietung von Zimmern an Feriengäste und in bisher einem Fall an auswärts arbeitende
Gastarbeiter. Man hat also durchaus eine Quelle des Gelderwerbs sehr frühzeitig erkannt
und genutzt, sich dann aber nur sehr langsam und relativ spät einer modifizierteren Form
geöffnet.
Ein zweite Möglichkeit des Nebenerwerbs ist die Bienen-, Hühner-, Forellen- oder
Kaninchenzucht. Bei der Bienenzucht, die auch schon um 1900 verbreitet war, ist die
Tendenz rückläufig; die sich seit 1960 entwickelnde Hühner- und Forellenzucht wächst.
Bei den etwa 15-20 Kaninchenhaltern (je 30-40 Kaninchen) handelt es sich teilweise um
Arbeitnehmer, die ihr Vieh aufgegeben haben. Es ist interessant festzustellen, daß die
Kaninchenzucht mehr oder weniger als ein Hobby betrieben wird, das einen Ertrag abwirft.
Auch Heimarbeit kommt als Nebenerwerb in Frage. Eine auswärtige Firma läßt in
Neidenbach Topfuntersetzer, Quirle usw. aus Draht herstellen, aber nur einige Einwohner -
überwiegend Frauen - übernehmen diese Arbeit: sie haben keine Landwirtschaft zu
versorgen. Wenn bisher nicht von Bargelderwerb im landwirtschaftlichen Bereich gesprochen
worden ist - Milchverkauf, Viehverkauf (Kälber, Stiere); Getreide wird überwiegend für
den eigenen Bedarf angebaut (Roggen, Weizen, Hafer) -, so deshalb nicht, weil der
Bargeldertrag der Landwirtschaft auch dort wieder in Form von Maschinen, Saatgut,
Pflanzgut, Düngemitteln, Kosten für den Tierarzt usw. investiert wird.
Bargelderwerb durch Nebeneinkünfte im 0. g. Sinn (Vermietung, Zucht, Heimarbeit durch
Auftraggeber) fand sich früher nicht in Neidenbach. Es gab wohl den
"Pinnemacher", der die Nägel für die festen Arbeitsschuhe schmiedete. Er hatte
sein Handwerk von Lasel/Schönecken mit nach Neidenbach gebracht. Eine wichtige Abend- und
Winterbeschäftigung war allerdings das Weben, wenn auch nur für den Eigenbedarf. In fast
jedem Haus stand ein Webstuhl, an dem Männer wie Frauen Hanf und Flachs verarbeiteten.
Das Realeinkommen der Familien erfuhr aus den oben aufgeführten Nebeneinkünften eine
beträchtliche Steigerung. Ein besonders wichtiger Faktor ist aber daneben heute noch die
Selbstversorgung durch landwirtschaftliche Produkte. Sie deckte früher fast den ganzen
Lebensbedarf - die Ansprüche bei Nahrungsmitteln, aber auch in Wohnen, Kleidung und
Ausbildung waren eben weit niedriger - und deckt auch heute noch weitgehend den
Eigenbedarf. Im Laufe der Jahrzehnte und besonders im letzten Jahrzehnt bis in die
jüngste Zeit zeigt sich hier allerdings ein beträchtlicher Wandel. Den älteren
Gewährsleuten ist noch bekannt, daß man zu Fuß nach Kyllburg zum Markt ging - heute
fährt man mit dem Bus oder dem Auto nach Kyllburg oder Bitburg - und im Drehrump gemachte
Butter und Eier als Tausch- und Zahlungsmittel mit sich führte. Als die
Molkereigenossenschaft aufkam, gab es noch einige Bewohner, die sich nicht anschlossen und
in kleinem Rahmen den Butterverkauf tätigten. Vereinzelt wurde die Butterbereitung für
den Selbstverbrauch noch bis vor einigen Jahren betrieben, daneben auch die Herstellung
von Weiß- und Kochkäse. Der entscheidende Wandel wird jedoch durch die
Molkereigenossenschaft herbeigefuhrt, die neben dem Verkauf von Milchprodukten in neuester
Zeit auch über eine genossenschaftseigene Großmetzgerei und Großbäckerei verfügt und
mit eigenem Angebot den Markt zu erobern versucht. Bis vor etwa 15 Jahren wurden in den
Familien alle 2-3 Wochen 9-10 Brote von 6-8 Pfd aus feingemahlenem Roggenmehl oder
Mischbrot (Weizen und Korn) gebacken. Eine Familie hat erst vor etwa 3 Jahren aufgehört
zu backen. War das Teigkneten im bäuerlichen Bereich die Arbeit des Mannes, so wurden in
Neidenbach die Arbeiten beim Brotbacken von den Frauen erledigt, denen es auch wie sonst
in der Eifel zusteht, das Brot am Tisch anzuschneiden, das vorher mit der Messerspitze auf
der Unterseite mit dem Kreuzzeichen versehen wurde. Das Brot, das als letztes in den Ofen
geschoben wird, nachdem der Teig in "Kuerweln" (Flechtkörben) gegangen und
gleichzeitig geformt ist, erhält ebenfalls das Kreuzzeichen. Das Selberbacken wurde seit
dem letzten Krieg vom "Lohnback" abgelöst. Die beiden Dorfbäcker erhalten nach
der Ernte von den Familien Mehl (Mühle Kyllburg) und liefern gegen einen Backlohn von
0,60 DM pro 4 Pfd das Brot. Die Großbäckerei liegt nun in ihrem Preis pro Brot um 0,40
DM niedriger. Bisher ist die Solidarität zwischen Verbrauchern und ortsansässigen
Bäckern groß, ob sie es allerdings bei dem relativ großen Preisunterschied bleiben
wird, ist m. E. fraglich. Mit dem Absatz von Fleischprodukten wird es die Molkerei jedoch
schwer haben. Bis heute schlachtet beinahe ausnahmslos jede Neidenbacher Familie. Generell
wird einmal pro Jahr geschlachtet, der Termin liegt im Oktober/November vor der
Martinskirmes. Diejenigen, die keine Rinder und Schweine mehr haben, kaufen halbe oder
ganze Tiere, meist aber werden wenigstens die Schweine noch selbst gemästet. Obwohl man
seit kurzem die Schlachtung und Verarbeitung im Bitburger Schlachthaus vornehmen lassen
kann, ziehen die Neidenbacher die Hausschlachtung vom Metzger vor. Der Schlachtlohn für
ein Schwein beläuft sich auf DM 22,- bis 24,-, der für ein Rind auf DM 35,-, der
Schlachthauspreis liegt in gleicher Höhe. Gesolpert, d. h. gepökelt wird in einer
"Fleeschbiet" (hölzerner Bottich) oder in einem hohen, rund ausgehauenen
Sandsteingefäß, das allerdings reißen kann, wenn ein Lager im Stein eingeschlossen ist.
In fast jedem Keller steht auch noch ein "Kaapessteen", obwohl Sauerkraut
(souren Kaapes) und Salzbohnen (sour Bungen) heute nicht mehr oder nur selten eingelegt
werden. Geräuchert wird im offenen Kamin mit Buchensägemehl, während dieser Zeit -
sechs Wochen bis drei Monate - dürfen die Ofen nur mit Buchenscheiten beheizt werden, da
andere Holzarten oder Brikett den Geschmack verderben würden. Eine willkommene Neuerung
sind Kühltruhen, sie wurden sofort und als eines der ersten technischen Haushaltsgeräte
angeschafft, während z. B. vollautomatische Waschmaschinen erst seit etwa 1965 und
später gekauft wurden. Das Haltbarmachen von Fleisch, Wurst, Obst und Gemüse durch
Einfrieren erfreut sich großer Beliebtheit und wurde bei den Haushaltungen nur mit Garten
ebenso früh wie bei landwirtschaftlichen Betrieben aller Größen eingeführt. Bis heute
ist daneben das Konservieren durch Einkochen beibehalten worden.
Wir können aus dem großen Bereich der Selbstversorgung zur Deckung des täglichen
Lebensbedarfes nur einige Punkte herausgreifen. Sie verdeutlichen aber, daß man sehr lang
und bis heute an Althergebrachtem festhält und Neuerungen nur einführt, wenn ihr Nutzen
greifbar auf der Hand liegt.
Die Familienmitglieder wirtschaften arbeitsteilig, wobei die Tätigkeitsbereiche
übergreifend sind. Jeder faßt überall an, wenn es erforderlich ist. Das trifft
besonders für die Stall- und Feldarbeit zu. Die Schwerpunkte liegen bei den Kindern in
der Schule oder in der Berufsausbildung, bei den Frauen in Haus und Garten, bei den
Männern im Beruf und in der Feldarbeit. Durch diese intensive Wirtschaftsweise wird das
Realeinkommen stark angehoben, und gleichzeitig ist das Bareinkommen - nach Abzug der
monatlichen festen Kosten - frei für Investitionen in materiellem Besitz wie Landkauf,
Hausbau, technische Geräte, Mobilar, Auto.
Die Befragung nach Besitzverhältnissen und der Anlage von Geld hat sich oft recht
schwierig gestaltet. Das sind Fragen, die nach Meinung der Befragten in den engsten
Familienkreis gehören und auch dort bleiben sollen. Aber die Befragten haben keinen Hehl
aus ihrer grundsätzlichen Einstellung zum Erwerb von Besitz gemacht. Sie sind gegen den
Landverkauf und bemühen sich um Pachtung oder Ankauf von Land, um die landwirtschaftliche
Basis zu verbreitern - hier spiegelt sich noch stark die Orientierung an mittel- und
großbäuerlichem Besitz wider. Daneben spielt die Spekulation mit der Wertsteigerung des
Landes eine Rolle. Aus diesem Grunde wird eher Land verpachtet als verkauft. Die relativ
neutrale Frage nach der Einstellung zu einem Darlehen ist meist zunächst mit längerem
Schweigen beantwortet worden. Um so präziser war dann die fast immer ablehnende Haltung.
Bei einem Auto- oder Traktorkauf und bei allem, was preislich in diesem Niveau liegt,
kommt ein Darlehen nicht in Frage, auch nicht bei größeren Umbauten am Haus, allerdings
bleibt die Entscheidung beim Hausbau zumindest offen. Bargeld wird häufig in
Bausparverträgen angelegt.
Bei der Nachbarschaft, in welche die Familie nach ihrem Wohnplatz selbstverständlich
einbezogen ist, gibt es sowohl in der älteren als auch in der gewandelten Form unserer
Tage keine Unterschiede zwischen dem bäuerlichen Bereich und der Schicht der Steinhauer.
Das Nachbarschaftsgefüge, das sich früher als Not- und Feiergemeinschaft darstellt,
weist diese Merkmale heute nur noch in abgeschwächter Form auf. Man bezeichnet die
lockere Gruppierung von etwa sieben oder acht Häusern als Nachbarschaft. Wechselt man
innerhalb des Wohnortes den Wohnplatz - was durch die rege Bautätigkeit seit 1950
häufiger vorkommt - wird die alte Nachbarschaft aufgegeben, und man fängt an der neuen
Stelle wieder eine Nachbarschaft an, d. h. man integriert sich in die dort bereits
bestehende Nachbarschaft.
Bei Anlässen, die über den alltäglichen Rahmen hinausgehen, wie Tod, Begräbnis,
Hochzeit, Taufe, ist heute beinahe eine bewußte Pflege des nachbarlichen Verhaltens
festzustellen, das mag seine Ursache darin haben, daß die Nachbarschaft durch Aufkommen
neuer Formen und Verhaltensweisen vieler Funktionen entledigt ist und die ihr verbliebenen
besonders wahrt. So ist beim Sterben eines Nachbarn das Todansagen und die Bitte um vier
Träger für den Sarg, sowie für zwei Personen, die die Grabstelle ausheben, geblieben.
Auch bringen die Nachbarn wie in früheren Zeiten Eier, Butter, Zucker, Mehl usw. für den
Kuchen zum Totenkaffee, der heute in der Gastwirtschaft gegeben wird. Noch um 1950, als
die Bestattungen von den Häusern aus gingen, betteten die Nachbarn den Leichnam vom
Sterbebett, wo er zum Abschiednehmen aufgebahrt war, in den Sarg. Heute wird der Tote von
der Gemeindeschwester und Familienangehörigen hergerichtet, alle übrigen Verrichtungen
übernimmt ein Bestattungsinstitut. Die Verlegung des Begräbnisses vom Morgen auf den
Nachmittag seit etwa 1968 hat sich wesentlich auf den Ablauf der Feierlichkeiten
ausgewirkt. Die Verkürzung der Zeit hat das Begräbnis zu einer Familienfeierlichkeit mit
Verwandten und der Nachbarschaft werden lassen, wobei die übrige Dorfgemeinschaft im
Gegensatz zu früher mehr abseits steht.
Betrachten wir die Hochzeit: sie ist in noch viel stärkerem Maße ein Familienfest im
Verwandtschaftskreis geworden. Die Nachbarn gratulieren und machen Geschenke, die Mädchen
der Nachbarschaft helfen in der Gastwirtschaft, wo das Essen ausgerichtet wird, beim
Auftragen. Bis in die fünfziger Jahre wurden die Hochzeitsmahlzeiten noch in den Häusern
eingenommen, die Nachbarn stellten für das Brauthaus Tische und Stühle, Geschirr und
Bestecke, bereiteten dort auch das Festessen und die übrigen Mahlzeiten und trugen auf.
Die Hochzeitsgesellschaften betrugen 50 bis 80 Gäste. Heute feiert man mit 20-30 Gästen.
Ausnahmen bilden Hochzeiten im Stammhaus.
Nach der Geburt eines Kindes kommen die Nachbarn, um es anzusehen, und bringen Geschenke
mit. Zwischen 1950 und 1955 ist in Neidenbach die Zahl der Geburten zu Hause unter der
Fürsorge einer Hebamme etwa genauso hoch wie die im Kyllburger Krankenhaus. Die Zahl hat
sich stetig, aber doch nur langsam zugunsten der Krankenhausgeburten entwickelt. Da nun
aber das Kyllburger Krankenhaus aufgelöst ist (seit 1969), besteht die Alternative
zwischen dem unbekannteren Gerolsteiner Krankenhaus und der ortsansässigen Hebamme. Die
Neigung für die Hausgeburten ist seither wieder steigend. Ich glaube kaum, daß dieser
Trend anhalten wird, aber es ist zumindest interessant festzustellen, daß man zunächst
spontan der vertrauten Bezugsperson - die allerdings wohl großes Vertrauen genießt - den
Vorrang vor dem anonymen Krankenhaus gibt, obwohl es mit Wahrscheinlichkeit in Notfällen
weit bessere Maßnahmen ergreifen kann.
Die Taufe ist ein reines Familien- und Verwandschaftsfest im Elternhaus des Täuflings.
Sind früher die Taufpaten (Joot oder Jourdi und Päter, Gote und Pate) überwiegend die
Geschwister oder die Eltern der Eheleute, so sind es ganz vereinzelt heute schon Freunde
oder Bekannte. Der Täufling erhält den Namen des Paten oder der Patin. Wenn der Name
nicht gefällt, wird ein anderer als Rufname dazugesetzt.
Bisher feiert man nur den Namenstag, und aus diesem Anlaß macht man Nachbarn oder
Verwandten kleine Geschenke. Neuerdings setzt sich bei der jüngsten Generation -
vielleicht durch Schulfreunde und Arbeitskollegen beeinflußt - zusätzlich die Feier des
Geburtstags durch.
Im Rahmen der Festlichkeiten bei Begräbnis, Hochzeit und Taufe tritt die Nachbarschaft
immer mehr zurück, aber man darf nicht vergessen, daß aus jedem Haus der Nachbarschaft
und - nicht nur bei Begräbnissen - fast aus jedem Haus des Ortes mindestens ein
Familienmitglied an der Meßfeier in der Kirche teilnimmt.
Neben den bisher aufgeführten Familienfesten muß auch der "Pittichdaach", das
Patronatsfest der Kirchengemeinde, Erwähnung finden. Die Kirmes fällt auf den Sonntag,
der dem 29. Juni folgt. Es ist ein Dorf- und Familienfest. Heute werden für diesen Tag
immer noch große Vorbereitungen getroffen, z. B. Hausputz, Renovierungen, Kuchenbacken,
Speisevorbereitungen. Man erwartet zur Kirmes nach wie vor die auswärtige Verwandtschaft.
Es herrscht ein reges Kommen und Gehen in den Häusern, so weit wie möglich werden Betten
für diejenigen zur Übernachtung bereitgestellt, die ein weite Reise zurückgelegt haben.
An diesem Tag sehen sich die weiter auseinander wohnenden Verwandten wieder, erzählen,
tauschen Gedanken aus, und die Angereisten feiern Wiedersehen mit Freunden und Bekannten
aus dem Dorf. Neuerdings werden auch auswärtige Arbeitskollegen zur Kirmes eingeladen,
die ganz in die Familienfestlichkeiten einbezogen sind.
Bevor wir zusammenfassen, sei noch einmal betont, daß viele Bereiche nur fragmentarisch
und manche wesentliche auch gar nicht in diesem Rahmen beleuchtet worden sind. Gerade der
letztbehandelte Abschnitt über die Kirmesfeier könnte z. B. eine Anzahl Fragen
aufwerfen. Streifen wir nur das Verwandten- bzw. Heiratsproblem: Verwandte kamen früher
zu Fuß zur Kirmes, da sie in gegenseitig überschaubaren Bereichen lebten, Wohn- und
Arbeitsplatz waren mit wenigen Abweichungen fast immer identisch. Die Kirmes ist in allen
Dörfern der Umgebung eine der wenigen festlichen Unterbrechungen des Jahreslaufes, und
der erschlossene Umkreis bildet mit wenigen Ausnahmen auch den lokalen Rahmen für die
Partnerwahl. Analog zur gesteigerten verkehrsbedingten Mobilität (Eisenbahn, Bus, eigenes
Auto), die die räumlichen Distanzen leichter überwinden läßt, ergibt sich außer dem
weiteren Berufsfeld zwangsläufig auch ein stärker ausgeprägter Interaktionsbereich in
Form menschlicher Kontakte und Beziehungen, die das Heiratsfeld sowohl horizontal wie
vertikal erweitern. Die gleiche Mobilität, die sowohl umfassendere Heiratsmöglichkeiten
mit sich bringt als auch räumlich gesehen einen gelockerten Familien- bzw.
Verwandtenverband schafft, fördert aber heute gleichzeitig innerhalb dieses Bereiches die
Kontaktmöglichkeiten überhaupt. Das zeigen besonders der auswärtige Besuch zu den
Kirmestagen oder auch Besuche von Verwandten aus der Stadt während der Ferien. Hier wäre
interessant, auf die Relation zwischen Häufigkeit und Form der Besuche in der heutigen
Zeit einzugehen und von daher einen Vergleich zu den früheren Besuchsformen herzustellen.
Andererseits bietet sich als interessantes Problem die Gestaltung von Freizeit und Urlaub
bei den Bewohnern von Neidenbach. Zu diesem Komplex müßte man sich gesondert äußern.
Zunächst ist nur grundsätzlich anzumerken, daß die landwirtschaftliche Betätigung auch
heute noch in starkem Maß an das Eigentum bindet und daß von daher kein Urlaubs- oder
Wochenendproblem entsteht. Die freie Zeit beschränkt sich auf Stunden innerhalb der
gesamten Woche.
Betrachten wir abschließend Tradition und Neuerung innerhalb des Familienwesens, so
fällt zunächst das Verharren in alten Strukturen auf. Bei näherem Zusehen hat sich aber
innerhalb der Struktur eine den heutigen Erfordernissen und Möglichkeiten angepaßte Form
entwickelt. Die Großfamilienform besteht z. B. nach wie vor, einmal in der Funktion als
notwendige Altersversorgung für die Großelterngeneration sowie zur Arbeitskräftedeckung
für die nebenerwerbliche (landwirtschaftliche) Betätigung, wobei der letztgenannte
Faktor im Gegensatz zu früheren Zeiten einen untergeordneten Platz einnehmen könnte.
Andererseits aber - und damit meine ich die Wandlung - hat innerhalb des Verbandes die
Individualperson mit ihrem spezifischen Rollenverhalten und den entsprechenden
Funktionsausübungen ein wesentliches Gewicht erhalten gegenüber dem stark
gruppenverhafteten Denken und Handeln der früheren Großfamilie, die das Gemeinwohl in
jedem Falle über das Interesse des Einzelnen stellte. Ein Relikt der Vorstellung von der
homogenen Familieneinheit bilden heute noch die im dörflichen Umgang allgemein und
üblich verwendeten Benennungen der Familien nach Hausnamen, z. B. "de
Bäkisch", "Leinenhaus", "Haus Krimisch".
Ein weiteres traditionales Element ist die sehr stark ausgeprägte landwirtschaftliche
Nebenerwerbstätigkeit. Aus der Neigung vieler Familien zur Vergrößerung der
landwirtschaftlichen Nutzungsfläche, die gleichzeitig wiederum eine Mehrbelastung und
größere Abhängigkeit schafft, läßt sich das fast unveränderte Ideal vom
mittelbäuerlichen Besitz ablesen, worin sich der gleichbleibende Geist des Arbeiterdorfes
(nicht im Sinne der industriellen Pendlerbewegung, sondern in der Ausprägung eines
vorindustriellen Gewerbeortes mit ungelernter Arbeiterschaft) mit Beginn seiner
Entwicklung seit 1870 zeigt. Dieser Geist ist vielleicht die Triebfeder für den
durchgängig beharrenden Charakter, den wir vorfinden, während die Flexibilität für
häufig früh eingeführte Neuerungen, die entweder eine Arbeitserleichterung oder eine
günstige neue Erwerbsquelle ermöglichen, vielleicht von einem ganz sachlich abwägenden
Zweckdenken herrührt, das wieder ursächlich bedingt ist durch die karge Landschaft, in
der Neidenbach lebt und die nur bei geschicktem Wirtschaften einen Ertrag abwirft.
Quellenangabe: Festschrift Matthias Zender, 1970 |